Vor dem Virus sind alle gleich. Nicht

„Vor dem Virus sind alle gleich“ – Dieser Satz wird oft gesagt. In Bayern gilt er allerdings nicht für Geflüchtete. Ihre Belange und Interessen bleiben derzeit oft auf der Strecke oder werden ignoriert.

Unterkunft mit Schild "leave no one behind"

von Agnes Andrae

„Vor dem Virus sind alle gleich“ – Dieser Satz wird oft gesagt. In Bayern gilt er allerdings nicht für Geflüchtete. Ihre Belange und Interessen bleiben derzeit oft auf der Strecke oder werden ignoriert. Die Ausbreitung des Conoravirus hat gezeigt, dass gerade in den großen Sammelunterkünften wie den bayerischen ANKER-Zentren die Gefahr einer schnellen Verbreitung groß ist, sobald es erst zu einer ersten Infektion gekommen ist. Es ist einfach nicht möglich, Abstand zu halten, während die Menschen gleichzeitig gemeinsam in der Kantine essen, die gleichen Sanitäranlagen nutzen oder in Gemeinschaftszimmern schlafen.

Dies bestätigte eine Studie der Universität Bielefeld (1), die das Risiko von Geflüchteten, in Flüchtlingslagern an Covid-19 zu erkranken, untersucht. Danach sind Sammelunterkünfte besonders gefährdet, zu Hotspots für Corona-Infektionen zu werden. Ist die Infektion einmal in der Unterkunft angekommen, sei das Infektionsrisiko für alle Bewohner*innen mit 17 % als hoch einzustufen. Betroffene Unterkünfte unter Kollektivquarantäne zu stellen, sei die falsche Reaktion und verschlechtere die Situation noch. Erfahrungen in ähnlichen Situationen wie z.B. auf Kreuzfahrtschiffen zeigen, dass die Infektionszahlen bei einer frühen Evakuierung im Vergleich zur Kollektivquarantäne deutlich niedriger sind. Deshalb sei diese Kollektivquarantäne aus epidemiologischer Sicht „ausnahmslos zu vermeiden“. Die Forscher*innen um den Epidemiologen Professor Dr. med. Kayvan Bozorgmehr kommen zu dem Schluss: „Die Unterbringung von Geflüchteten sollte grundsätzlich coronaschutzkonform erfolgen, d.h. möglichst dezentral bzw. bei zentralen Einrichtungen möglichst in Einzelunterbringung in kleinen Wohneinheiten, damit bei Auftreten eines Falls eine rasche Ausbreitung vermieden wird und eine adäquate Kontaktnachverfolgung möglich ist.“

Das Robert-Koch-Institut (RKI) hat für Flüchtlingsunterkünfte während der Coronapandemie Handlungsleitlinien erarbeitet. Unter dem Titel „Hinweise zu Prävention und Management von COVID-19-Erkrankungen in Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete“ empfiehlt das RKI, Geflüchtete präventiv nur noch in Einzelzimmern unterzubringen und dafür wo nötig auch Wohnungen und Hotels anzumieten, Risikogruppen so schnell als möglich aus den Unterkünften herauszuholen, die Geflüchteten umfassend zu informieren und bei einer aufgetretenen Infektion sorgsam mit den Quarantänemaßnahmen umzugehen. Eine Quarantäne für die gesamte Unterkunft lehnt das RKI ab: „Eine Quarantäne der gesamten GU sowie das Errichten von physischen Barrieren (Zäunen) sind zu vermeiden. Durch eine Massenquarantäne wird eine vermeidbar hohe Exposition mit daraus resultierenden Risiken für alle BewohnerInnen in Kauf genommen, die den RKI-Empfehlungen zu Infektionsschutzmaßnahmen widerspricht.“ (2)

In Bayern und allen anderen Bundesländern halten sich die Verantwortlichen für die Unterbringung von Geflüchteten jedoch nicht an die Ergebnisse der Studie aus Bielefeld und den Leitlinien des RKI. Im Infektionsfall werden nahezu alle Unterkünfte erstmal unter Kollektivquarantäne gesetzt. In einigen Fällen wurde diese Gesamtquarantäne teils wochenlang verlängert. Die Geflüchteten im ANKER-Zentrum Geldersheim bei Schweinfurt beispielsweise durften zwei Monate lang das Lager nicht verlassen. Insgesamt sind in bayerischen Flüchtlingslagern mindestens drei Sterbefälle aufgrund von Corona-Infektionen zu beklagen.

Gegen den Umgang der bayerischen Staatsregierung in der derzeitigen Situation gab es mehrere Protestaktionen, offene Briefe und Appelle an die Verantwortlichen. So haben bereits Mitte April Ärzt*innen eine dezentrale Unterbringung von Geflüchteten in Bayern gefordert (3). Mehrere Organisationen (Bayerischer Flüchtlingsrat (BFR), Münchner Flüchtlingsrat (MFR), LeTRa Lesbenberatung, Refugee Struggle for Freedom, Sub- Schwules Kommunikations- und Kulturzentrum München e.V.) haben außerdem eine Petition gestartet mit der Forderung, die Lagerpflicht für Geflüchtete abzuschaffen (4).

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Quellen:

(1)   Public Health Covid-19: SARS‐CoV‐2 in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete

(2)   Bayerischer Flüchtlingsrat: Robert-Koch-Institut empfiehlt Schutz Geflüchteter – nichts passiert

(3)   Süddeutsche Zeitung: Sorge vor Corona in Flüchtlingsunterkünften

(4)   We Act!: Lagerpflicht für Geflüchtete abschaffen!