Asyl- und Migrationspolitik der Ampelkoalition: Neustart für Deutschland, Hoffnung für Europa

Analyse

Das Kapitel zu Integration, Migration und Flucht im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung ist äußerst ambitioniert. Welche Änderungen sieht es auf Ebene der EU-Politik vor?

Teaser Bild Untertitel
Asyl- und Migrationspolitik: Wird der Neustart in der deutschen Bundespolitik positive Auswirkungen auf europäischer Ebene haben?

„Wir wollen einen Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik gestalten, der einem modernen Einwanderungsland gerecht wird.“

Schon der erste Satz des Kapitels zu Migration, Integration und Flucht des Koalitionsvertrags der Ampelregierung leitet den im nächsten Satz versprochenen Paradigmenwechsel ein. Migration wird hier als das beschrieben, was es ist: völlig normal und keineswegs ein Grund zur Aufregung. Angesichts der deutschen Migrationspolitik der vergangenen Jahre, die besonders seit 2015 immer wieder neue Asylrechtsverschärfungen und Abwehrmaßnahmen gegenüber Geflüchteten hervorgebracht haben, ist diese eigentliche Selbstverständlichkeit ein großer Fortschritt.

Die nun vorgeschlagenen weitreichenden Veränderungen im Staatsangehörigkeits-, Bleibe- und Asylrecht werden, wenn umgesetzt, die Situation von zahlreichen Geflüchteten in Deutschland spürbar und konkret verbessern. Zu diesen positiven Veränderungen gehören zum Beispiel die Vereinfachung der Einbürgerung, die Ermöglichung eines Spurwechsels für abgelehnte Asylsuchende oder die Ausweitung des Familiennachzugs.

Politisches Signal für die EU

Doch nicht nur das. Diese Vorhaben der deutschen Asyl- und Migrationspolitik haben das Potential, ein starkes Signal und einen kräftigen Kontrapunkt zur gegenwärtigen EU-Migrationspolitik zu setzen. Damit könnten sie in der EU auch die andauernde Blockade einer überfälligen Reform des Gemeinsamen Asylsystems lösen und den fortschreitenden Abbau des EU-Flüchtlingsschutzes aufhalten. Denn auch und gerade auf der europäischen Ebene ist die Anerkennung von Migration als Teil unserer Wirklichkeit keineswegs selbstverständlich. Im Gegenteil, in der gesamten EU waren die Debatten zu Asyl- und Migrationspolitik in den vergangenen sechs Jahren stark vom Narrativ von Migration als Ausnahme-, Krisen- und Bedrohungsphänomen geprägt.

Die Spirale der Versicherheitlichung und Verrohung der Debatten schlug sich nicht nur in dem 2020 vorgestellten Reformvorschlag der Europäischen Kommission nieder, sondern auch in dem Vorgehen der EU-Mitgliedsstaaten, insbesondere an den EU-Außengrenzen. Die nun schon seit Wochen andauernde Eskalation an der polnisch-belarussischen Grenze bedeutet für die Betroffenen, die dort unversorgt bei Minustemperaturen ausharren müssen, unfassbares Leid und hat bereits mehrere Menschenleben gekostet. Die Tatsache, dass die EU-Kommission, die ja eigentlich die Hüterin des EU-Rechts sein müsste, in dieser Lage ausgerechnet jenen Staaten, die unverhohlen EU-Recht brechen, Mittel für mehr Grenzschutz anbietet und ein „Asylverfahren light“ vorschlägt, ist bezeichnend für den gegenwärtigen Zustand des Flüchtlingsschutzes in der EU.

Das Bekenntnis der Ampelkoalition, “die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen (zu) beenden” und die Forderung, dass der “Asylantrag von Menschen, die in der EU ankommen oder bereits hier sind, (..) inhaltlich geprüft werden” muss, ist daher ausgesprochen wichtig. Zugleich stellt sich mit Blick auf die aktuell dramatische Lage an der östlichen EU-Außengrenze die Frage, wie die neue Bundesregierung diesem Anspruch gerecht werden will.

Für einen Paradigmenwechsel auf EU-Ebene müssen noch sehr dicke Bretter gebohrt werden. Schon jetzt haben Rechtsaußen-Politiker, wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, mit einer Kampfansage auf die ambitionierten Pläne der neuen deutschen Bundesregierung reagiert. Die Frage ist also, welche positiven Auswirkungen der Neustart in der deutschen Bundespolitik auf europäischer Ebene konkret haben kann.

Seenotrettung ist kein Verbrechen

Seit nunmehr fast zwei Jahren - seit März 2019 - werden auf dem Mittelmeer keinerlei staatliche oder europäische Seenotrettungsmissionen mehr durchgeführt. Schon das Auslaufen der italienischen Seenotrettungsmission Mare Nostrum mangels Unterstützung anderer EU-Mitgliedsstaaten im Jahr 2014 hinterließ ein verheerendes Schutzvakuum: In Folge sind seither knapp 23.000 Menschen  bei dem Versuch gestorben, über das Mittelmeer zu fliehen. In Reaktion darauf entstanden zahlreiche ehrenamtliche Seenotrettungsmissionen, die die im Kern hoheitlich-staatliche humanitäre Aufgabe übernommen haben, Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Doch zivile Seenotrettungsorganisationen sind - mitten in der EU - zunehmend systematischer Behinderung und Kriminalisierung ihrer Arbeit ausgesetzt.

Ein Bericht von Amnesty International dokumentiert wie Polizei und Staatsanwaltschaften in acht europäischen Staaten zunehmend Menschenrechtsverteidiger/innen drangsalieren, die Menschen auf der Flucht helfen. Strafverfahren, wie gegen die Besatzung des Rettungsschiffes Iuventa in Italien oder gegen die Helfer/innen Sara Mardini und Sean Binder auf Lesbos, reihen sich damit in einen gesamteuropäischen Trend ein. Auch der letzte Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer trug mit fragwürdigen Auflagen für Seenotrettungsschiffe und entsprechenden Verordnungsanpassungen zu einer zielgerichteten Behinderung von ehrenamtlicher Seenotrettung bei.

Wenn sich die neue deutsche Bundesregierung nun das Ziel setzt, eine staatlich kontrollierte, europäisch getragene Seenotrettungsmission zu etablieren und sich explizit gegen die Behinderung ziviler Seenotrettung stellt, ist das also nicht nur eine Abkehr vom bisherigen deutschen Kurs. Die Umsetzung dieses Vorhabens würde auf europäischer Ebene die Übernahme staatlicher Verantwortung für den Schutz von Menschenleben in europäischen Gewässern bedeuten. Den rechtspopulistischen Angriffen auf die Seenotretter/innen würde eine solche europäisch getragene Seenotrettungsmission den Wind aus den Segeln nehmen.

Niemand geringeres als der Exekutivdirektor der EU-Grenzschutzagentur Frontex, Fabrice Leggerie, hatte den Seenotrettungsorganisationen 2018 beispielsweise unterstellt, sie würden sich mit kriminellen Schleppern und Schleusern gemein machen. Neben dem Bekenntnis zur staatlichen Seenotrettung soll nach Wunsch der Ampelkoalition auch das Mandat von Frontex explizit um die Aufgabe zur Seenotrettung erweitert werden. Darüber hinaus soll die EU-Agentur künftig parlamentarischer Kontrolle unterliegen.

Eine Reform des europäischen Asylsystems

Nach Wunsch der Koalitionäre soll künftig geltendes EU-Recht eingehalten werden - damit könnten beispielsweise keine sogenannten Pushbacks mehr ausgeführt werden. Dieser Satz könnte wie ein Allgemeinplatz klingen, würde nicht an den EU-Außengrenzen de facto tagtäglich EU-Recht gebrochen werden. Während diese Rechtsbrüche von EU-Mitgliedsstaaten wie beispielsweise Griechenland mittlerweile so offen betrieben werden, dass sich nicht einmal mehr um den Schein von Rechtsstaatlichkeit bemüht wird, stellt sich die Frage, wie eine deutsche Bundesregierung die Einhaltung von Völker- sowie EU-Recht an den europäischen Außengrenzen bewirken kann. Auch hier zeigt die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze und die Weigerung Polens, selbst die von der Kommission vorgeschlagenen Asylverfahren light durchzuführen, wie schwierig die Gesamtgemengelage in der EU ist.

Bereits 2016 hatte die Europäische Kommission einen Vorschlag für die Reform des Europäischen Asylsystems gemacht, der an der Blockade der Mitgliedsstaaten gescheitert war. Auch die Verhandlungen des Europäischen Rates zum neuen Migrations- und Asylpaket gehen nur sehr schleppend voran. Die neue deutsche Bundesregierung bekennt sich in ihrem Koalitionsvertrag jedoch zu einer grundsätzlichen Reform des Europäischen Asylsystems und will mit einer Koalition der Willigen aufnahmebereiter EU-Mitgliedsstaaten vorangehen und so dazu beitragen, dass mehr EU-Staaten Verantwortung in der Aufnahme- und Umverteilung von Geflüchteten übernehmen. Das ist sicherlich eines der am schwierigsten umzusetzenden Vorhaben, denn hier kommt es auf die anderen EU-Mitgliedsstaaten und ihre Bereitschaft zur Kooperation an. Es ist daher schade, wenn auch nicht überraschend, dass der Koalitionsvertrag hier etwas vage bleibt und die Möglichkeit versäumt, aufnahmebereite Städte in der EU als Partner zu benennen.

Die Verhinderung von Sekundärmigration innerhalb und das verstärkte Abschieben von Ausreisepflichtigen aus der EU sind Aspekte, für die sich die Europäische Kommission in den vergangenen Jahren immer wieder stark gemacht hat. Die Tatsache, dass der Koalitionsvertrag das Narrativ der zu vermeidenden Sekundärmigration kritiklos bedient und eine „Rückführungsoffensive“ anstrebt, ist angesichts der Bedingungen in manchen EU-Mitgliedsstaaten sowie in zahlreichen Herkunftsländern bedauerlich. Hier wäre ein Kontrapunkt zum bisherigen in der EU weit verbreiteten Narrativ wünschenswert gewesen. Nicht ohne Grund wurde schließlich der von der Europäischen Kommission geprägte Begriff der „Rückführungspatenschaft“ zu einem von zwei Unwörtern des Jahres 2020 gewählt.

Rechtsstaatliche Abkommen mit Drittstaaten

Für viel Kritik von zivilgesellschaftlichen Akteur/innen hat in den vergangenen Jahren in den EU-Beziehungen mit Drittstaaten die Konditionalität zwischen dem Abschluss von Migrationsabkommen und der finanziellen Unterstützung im Rahmen von Entwicklungskooperation gesorgt. Eine solche Konditionalität lehnt die deutsche Bundesregierung in Zukunft ab. Außerdem sollen durch rechtsstaatliche Abkommen mit Drittstaaten verhindert werden, dass Menschen aus geopolitischem oder finanziellem Interesse instrumentalisiert werden können und damit ein Beitrag geleistet werden, dass sich Situationen wie aktuell an der belarussisch-polnischen Grenze nicht wiederholen.

Die Europäische Union hat bereits in 2020 das selbstgesteckte Resettlementziel nicht erreicht und wird auch die Zusage für 2021 aller Voraussicht nach nicht erfüllen. In diesem Zusammenhang könnte die im Koalitionsvertrag festgelegte Selbstverpflichtung, sich verstärkt einzubringen, als gutes Beispiel für andere EU-Mitgliedsstaaten gelten, die zugesagten Resettlementplätze in Zukunft auch tatsächlich zur Verfügung zu stellen - wie auch die Verstetigung des humanitären Aufnahmeprogramms in Reaktion auf den Krieg in Syrien und die explizite Öffnung des selbigen für Personen aus Afghanistan.

Es gibt viel zu tun und zu gewinnen

Viele der europäischen Vorhaben, die die Ampelparteien in ihrem Koalitionsvertrag festlegen, können unter dem Schlagwort „zurück zur Normalität“ zusammengefasst werden. Doch in der europäischen Migrations- und Asylpolitik haben die Debatten und daraus resultierenden Praktiken der vergangenen Jahre hochgradig polarisiert und teilweise das Fundament faktenbasierter Argumentation und geltender Rechtsgrundlagen verloren. Eine auf Normalität und Rechtstaatlichkeit basierende deutsche Politik könnte in diesem Zusammenhang nicht nur ein gutes Beispiel für andere sein, sondern auch einen echten Unterschied in der Überwindung der jahrelangen Blockade von Reformen machen.

Klar ist: Ein einfaches Unterfangen wird dies nicht, und die deutsche Bundesregierung wird Ausdauer, starke Nerven und Verbündete im Europäischen Rat brauchen. Doch wenn es gelingt, alle im Koalitionsvertrag festgelegten Vorhaben umzusetzen, wird Deutschland die fortschrittlichste Migrations-, Asyl- und Integrationspolitik der EU haben. Eine Politik, die einem modernen Einwanderungsland tatsächlich gerecht wird.